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Sarah Lau

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Geschüttelt oder gerührt?

Ganz nüchtern betrachtet: Ein gepflegter Rausch ist von Zeit zu Zeit durchaus erstrebenswert. Womit, wann und wie der feine Fokusverlust derzeit am stilvollsten gelingt, verraten uns drei der besten Master Mixologists der Welt.

Der 20th-Century-Cocktail

„Mein «Pick me up», um vom Tag in den Ausgehmodus überzugleiten.“

Sein Gin Basil Smash ist seit 2008 weltweit auf Siegeszug: Doch nicht nur aufgrund seiner Eigenkreationen zählt Jörg Meyer zu den besten seines Fachs. Der Macher des legendären Hamburger „Le Lion“ (Boilerman Bars, Cinchona Zürich etc.) weiss auch mit feinen Anekdoten um die Historie der Klassiker zu bezirzen. Während er zum Fokussieren einen Martini empfiehlt, wählt Meyer den 20th Century für den gepflegten Fokusverlust. „Zu welchem Typ Trinker der Cocktail passt? Zum Erfahrenen. Er sucht nicht mehr. Geniesst und beobachtet.

Könnte ich aussuchen, wäre eine ikonische Grossstadt-Bar der perfekte Ort, um diesen Cocktail zu geniessen. Interessante Menschen, elegant gekleidet, schaffen eine einzigartige Stimmung. Es ist früher Abend und alle tragen die Spannung in sich: Was wird die Nacht bringen? Den 20th Century gibt es seit den 30er-Jahren. Er wurde gemixt für die Jungfernfahrt des 20th Century Limited Trains, des elegantesten Schnellzugs Amerikas. Ein beeindruckendes Wunderwerk der Technik im Art-Deco-Design mit einer Bar. Ich bin ja der Meinung, dass ein Trinker für sich etwas Altes ausgraben und es mit den richtigen Zutaten über die Zeit perfektionieren sollte. Für mich braucht es hier einen Gin, der einen anschreit. HEPPLE. Viel davon. Frische Zitrone. Einen sehr raren Wein, Bitter aus Korsika, denn nur er sorgt für einen langen Nachhall am Gaumen. CAP CORSE! Und die geheime Zutat, eine Hommage an die eleganten Roaring Twenties, einen Créme de Cacao blanc. Ein exotisch gewürzter, kristallklarer Kakao Brand: DUTCH CACAO.

Beim ersten Schluck des Cocktails springt einen der Wacholder an. Man ist dankbar. Entspannung pur – kein sonstwie gearteter Kreativausbruch im Glas. Dann kommt die Erfrischung durch die Zitrone. Herrlich. Eine Viertelsekunde später kämpfen Zitrone und Kakao am Gaumen um die Vorherrschaft. Zum gustatorischen Vorteil des Gaumens. Es folgt das lange Finale. Man nimmt die Weinnote durch den Cap Corse war. Kann nicht zuordnen, findet dann aber überraschenden Frieden, wenn sich die vier Aromen von Wacholder, Zitrone, Kakao und Wein zu einem unerwarteten Geschmackserlebnis verbinden. Was folgt ist Umami. Man sitzt, schweigt, geniesst. Das Theater an der Bar. Und das Orchester im Mund. Staccatissimo! Mein „Pick me up“, um vom Tag in den Ausgehmodus überzugleiten. Und nie vergessen: Der Rausch zeigt den wahren Charakter. Wer hier sein Gesicht verliert, sollte an sich arbeiten.

jrgmyr.net | lelion.net

Ich empfehle:

„Karibikurlaub im Glas“

Philipp Kössl, Master Mixologist im Zürcher Gastrotempel IGNIV, inspirierte der Lockdown zu seinem aktuellen Lieblingsdrink: „Die CryZtal Colada ist ein Smoothie, und wie ich finde, sehr coole Abwandlung des exotischen Evergreens. Durch das „milk washing“ – eine Technik aus dem 17. Jahrhundert – bekommt er bei uns eine klare, leichte Note und ist so viel frischer als die herkömmliche Variante. Bei Rum denke ich automatisch an Lebensfreude und die Leichtigkeit des Sommers. Und an Party mit jeder Menge Freunde. Da vieles davon 2020 in weite Ferne gerückt ist, wollte ich die Sehnsucht in einem Cocktail erlebbar machen. Ich sage immer: Es ist eine Pina Colada im weissen Smoking – elegant, null klebrig, das pure Aroma der Karibik. Ein Drink, der frisch und funky startet, nach Rum und Ananas schmeckt, danach kommt der Kokos-Kick. Der Spass mündet in einem extrem langen Finish und Mega-„Schmelz“. Passt dieses Jahr also rund um die Uhr, Sonnenurlaube sind im „real life“ schliesslich nach wie vor eher schwierig.

Dieser Wohlfühldrink ist wie gemacht für eine easy und entspannte Atmosphäre: Ein paar wärmende Sonnenstrahlen, die ins Zimmer fallen, dazu Izzy Bizu, deren Song „Diamond“ mir ein Lächeln aufs Gesicht zaubert und keine Termine – das ist der CryZtal, Karibikurlaub im Glas. Damit es kein böses Erwachen gibt, empfehle ich übrigens folgendes Credo: Know your limits and don’t try to impress anyone. Ab und an ein Schluck Wasser hat übrigens auch noch keinem geschadet. Spätestens bevor einem die Kokosnuss auf den Kopf fällt, ist es dann Zeit für einen unserer IGNIV Mocktails.“

igniv.com

„Sobald die Kirsche nicht mehr schmeckt, ist der Zauber vorbei!“

Tina Turner, Bill Clinton und Arnold Schwarzenegger waren bereits seine Gäste, doch auch ohne Starstatus dürfen die Künste von Master Mixologist und Autor Hercules Tsibis in der Zürcher ONYX-Bar des Hotel Park Hyatt genossen werden. „Einer der Drinks, der mich wirklich auf eine Reise mitnimmt, der mich abdriften lässt in eine andere Ära, ist ein Klassiker: der Manhattan! Oder besser gesagt MEIN Manhattan! Wenn nicht der Unsterblichste von allen, dann muss man sagen, dass es einer der wundervollsten Drinks ist, die jemals erfunden wurden. Die perfekte Tages- oder Nachtzeit des Geniessens? Ich halte mich in diesem Punkt an Ernest Hemingway , einem der grössten Bargänger und Trinker unter den alkoholisierten Literaten. Morgens war er eisern, zu dieser Tageszeit wurde gearbeitet und geschrieben: „Ich war eintausendfünfhundert und siebenundvierzig Mal in meinem Leben betrunken, aber nie am Morgen.“

Dementsprechend – und auch dem Zauber der Nacht geschuldet – ist die Zeit, nachdem die Sonne sich verabschiedet hat, sicher die beste Zeit diesen Drink zu geniessen. Ich denke an klassisches Barfeeling, am besten in New York. Ein toller Jazz-Pianist mit einem Repertoire, welches einen animiert zu träumen. Dunkles verrauchtes Ambiente, Stimmengewirr, das einen in Trance wiegt und das Gefühl von einer Zeitmaschine, in eine andere Ära katapultiert zu werden. Der Manhattan ist übrigens nichts ohne seine magische Kirsche. Er beginnt als rauer und kräftiger Klassiker, hart und gnadenlos. Nach dem zweiten Schluck kehrt etwas Wärme ein. Der rote Vermouth macht sich bemerkbar, seine Süsse und die Kräuter werden lebendig und der Whisky lädt zum Tanz ein. Mit jedem Schluck aus dem mit Eis gefüllten Whiskeyglas gewinnt der Manhattan an Nuancen und Frische. Nach den ersten Schlucken beisse ich in die Maraschino-Kirsche und lasse sie im Mund noch eine ganze Weile am Leben. Ich nehme einen Schluck des eiskalten bittersüssen Drinks, er trifft auf die Kirsche und streichelt meinen Gaumen. Etwas harmonisch Süsslich-frisches belebt meine Träume und lässt mich in andere Dimensionen driften. Sicher ist es ein sehr schmaler Grat zwischen hemmungslosem Genuss und hemmungslosem Abschweifen. Ich empfehle immer, aufmerksam dem Drink zuzuhören und auf die Kirsche zu achten. Sobald diese nicht mehr schmeckt, ist es an der Zeit sich zu verabschieden – dann ist der Zauber vorbei.

parkhyattzurich.com

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