Manche Rock’n’Roller würden sich im Grabe herumdrehen, wenn Sie hören würden, dass Sie ein Interview um 07.45 Uhr geben. Geht es der Musikindustrie so schlecht, dass man so früh aufstehen muss?
Wincent Weiss: Wenn man für das neue Album wirbt, macht man schon mal um 3.30 Uhr einen Soundcheck, um im Frühstücksfernsehen auftreten zu können. Statt Sex, Drugs und Rock’n’Roll bedeutet das Musikmachen für mich vor allem jeden Tag viel Arbeit. Das ist aber auch gut so. Ich stehe lieber früh auf und schaffe viel als den Tag zu verschlafen.

Haben Sie «Kaum erwarten» als Single zur CD-Veröffentlichung herausgebracht, weil Sie dieses Lied für den grössten Ohrwurm halten?
Für mich war wichtig, dass ich einen Song auskopple, der das gesamte Album repräsentiert. Die vorherigen Singles «An Wunder» und «Hier mit dir» sind viel früher entstanden.

Welche Wünsche und Träume, von denen er handelt, sind schon in Erfüllung gegangen, welche noch nicht?
Was ich mir musik- und karrieremässig vorgenommen hatte, ist schon hundertfach übertroffen worden. Es ist der Wahnsinn, was ich erleben darf! Für das, was ich mir privat und familiär vorstelle, war bisher viel zu wenig Zeit: Irgendwann Papa zu werden, und Opa. Im Video dazu werde ich einen künstlichen Bart tragen. Ein eigener ist vermutlich mein unrealistischster Wunsch. Aber man soll ja nie aufhören zu träumen … (Schmunzelt)

Hilft Ihnen das Texten beim Verarbeiten schwieriger Dinge wie etwa der Trennung von Ihrer Freundin?
Sich mit etwas zu beschäftigen hilft immer. Manche sprechen mit Freunden oder der Familie, ich kommuniziere beim Songschreiben mit den Fans. Mich hat mal einer gefragt: «Ist es nicht blöd, jeden Abend auf der Bühne zu stehen und immer wieder an die Ex erinnert zu werden?» Gar kein so ein schlechter Punkt, aber dafür geht die Verarbeitung weiter.

Mit Songs wie «Hier mit dir» bauen Sie sich dann wieder auf.
Genau, er handelt von einem Freund, den ich seit 26 Jahren kenne und der für mich wie ein Bruder ist. Ich kenne mein Leben gar nicht ohne ihn. Wir wurden in Zwillingskinderwagen zusammen herumgeschoben und ich habe keinen Geburtstag ohne ihn gefeiert.

Wie kam es zu dieser Verbindung?
Wir haben anfangs in der gleichen Stadt gewohnt und immer in der Nähe – bis ich aus Norddeutschland nach München gezogen bin, um mein Album zu machen. Unsere Mütter waren beste Freundinnen. Nach dem Kindergarten ging ich oft zu meinem Freund nach Hause, da meine Mum Vollzeit gearbeitet hat. So wurde ich von seinen Eltern mit grossgezogen.

Wie ist dieses Video in New York entstanden?
Die Plattenfirma sagte: «Wir drehen es dort. Wen willst du als Statisten mitnehmen?» Ich dachte, da nehme ich doch gleich meinen besten Freund mit und wir zeigen, wie unsere Freundschaft entstanden ist. Ich fragte ihn, ob er Zeit hätte. «Ich hole dich in drei Tagen ab. Wir fliegen für zwei Tage weg.» Ich habe ihm im letzten Moment gesagt, wohin der Kurztrip geht. Er hätte fast nicht freibekommen, wir mussten bei seinem Arbeitgeber nachhelfen!

«An Wunder» wurde in Lissabon gedreht. Suchen Sie sich die Schauplätze als Ferienersatz aus?
Ein bisschen! (Lacht) Ich war lange nicht mehr im Urlaub und dachte «Komm, wenn du wenigstens die Chance hast, für den Videodreh an einen schönen Ort zu reisen, dann nutze sie.» Den «Kaum erwarten»-Clip haben  wir nun allerdings in Köln gemacht, aber das ist auch mal schön. Wir waren ja auch schon in Japan und in Kapstadt.

Wie können Sie überhaupt regenerieren?
Noch gar nicht so richtig. Ich arbeite 95 Prozent und habe 5 Prozent Privatleben. Ich versuche wenigstens anderthalb Stunden pro Tag für mich selbst zu haben. Dann fahre ich Motorrad, treibe Sport oder höre Musik – und ich muss mit niemand reden. Urlaub zu machen nehme ich mir immer vor, doch die Woche im April hatte ich schon wieder storniert, weil ich Bandproben hatte. Ich muss ihn wohl auf nach der Tour verschieben.

Wohin wollten Sie reisen?
Nach Bali. Nach 13 Jahren Skatebord- und Snowboardfahren will ich unbedingt mal surfen lernen. Da ich Knieprobleme und bald einen MRT-Termin habe, wäre dieser Wunsch aber wohl kaum in Erfüllung gegangen.

Wie wichtig ist Ihnen die Geschwindigkeit?
Ich fahre schon gerne zügig, aber beim Snowboardfahren bin ich eher der entspannte, technische Fahrer und mache Tricks beim langsamen Fahren. Beim Auto- und Motorradfahren komme ich jedoch in einen Geschwindigkeitsrausch. Leider.

Was fahren Sie?
Eine BMW 1000 RR. Die läuft 316 Stundenkilometer und die fahre ich auch auf der Strasse. Oder 314 mit meinem Auto, einem S 63 Coupé, das mir dank eines Werbedeals mit Mercedes zur Verfügung steht.

Wie viel von Ihrem Verdienst geht für Geschwindigkeits-Bussen drauf?
Da ich mit Tempomat fahre, bin ich seit zweieinhalb Jahren nicht mehr geblitzt worden. Das liegt aber auch an den vielen Autobahnstrecken in Deutschland, auf denen noch freie Fahrt herrscht, vor allem aber will ich meinen Führerschein behalten …

Nehmen Sie auch Ihre neue Vorbildfunktion wahr?
Durchaus, aber ich weigere mich, den Erzieher zu spielen, was die Eltern erwarten, die mir schrieben: «Ich erlaube meiner Tochter nicht mehr zu Ihren Konzerten zu gehen, weil ich gelesen habe, dass Sie Alkohol trinken.» Sie sehen nicht, dass ich 26 Jahre alt bin und das Recht habe, mal ein wenig zu feiern, solange ich nicht zehnjährige Mädchen auffordere, es mir nachzumachen. Heutzutage betrinkt man sich als Künstler auch nicht, wenn man etwas erreichen will. Auf Tour trinke ich überhaupt keinen Alkohol. Die Konzerte sind so riesig, da muss man eine gute Show abliefern. Da kann ich nicht mit einem Kater auf die Bühne gehen.

Wie kam es zum Lied «1993»?
Ich habe es schon vor fünf Jahren geschrieben, aber es passte nicht zur ersten Platte. Das ist nun anders, da ich auf dem zweiten Album viel mehr von mir preisgebe. «1993» handelt von meiner familiären Situation. Ich bin bei meiner Mum grossgeworden und ohne Papa. Der hat mir aber nie gefehlt. Trotzdem möchte ich mit dem Song Väter und Mütter aufrufen, sich um ihre Kinder zu kümmern und nicht einfach zu verschwinden.

Das ist nachvollziehbar…
Es ist schon ein etwas härterer Song, denn ich sage: «Wenn ich Vater werde, will ich nie so sein wie du.» Ich habe mir selber einen Denkzettel geschrieben: Wenn ich Vater werde, möchte ich immer für mein Kind da sein – egal, wie schwierig die Zeiten sein werden und ob ich mit der Mutter zusammenlebe oder nicht. Für das Kind da zu sein, ist das mindeste, was Eltern tun sollten.

Viele Filme handeln davon, dass Kinder einen Elternteil suchen. Haben Sie das auch getan?
Meine Mum hat immer gesagt, ich könne Namen und Adresse haben und jederzeit hinfahren. Ich hatte dieses Bedürfnis jedoch gar nicht. Mein Grossvater war immer da, der Vater meines besten Freundes ebenfalls, wir haben Fussball gespielt und mit Mum war alles perfekt.

Was war beim Songwriting und Aufnehmen des zweiten Albums irgendwie anders?
Ich fand es familiärer und entspannter. Beim ersten Album wusste ich noch gar nicht, wie es klingen soll, wie ich klingen wollte und welche Art von Songs ich machen möchte. Fürs zweite Album habe ich mit meinem Produzenten und zwei Songwritern, die in den letzten Jahren zu Freunden geworden sind, ein festes Team gebildet, mit dem ich persönlicher werden konnte. Alle wussten über meine Kindheit und meine Trennung Bescheid, da kann man auch mal die Hosen runterlassen und tiefer gehen.

Sie sind der erste Vincent, den ich kenne, der sich mit W schreibt…
Wenn ich Vincent mit V sehe, finde ich das komisch. Aber mit W kenne ich keinen! (Lacht) Alle denken, es ist ein Künstlername, aber es steht so in meinem Personalausweis.

Hat das eine besondere Bewandtnis?
Meine Mum wollte einfach, dass die Initialen von Vor- und Nachname gleich sind. Sie wollte lieber WW haben als VW! So wurde ich zu Wincent. Wenn ich ein Mädchen geworden wäre, hätte sie mich Wendy getauft. Deshalb bin ich froh, dass ich ein Junge geworden bin …

Wer inspiriert die Live-Show, mit der Sie im Herbst auf Tournee gehen?
Ein bestimmtes Vorbild habe ich nicht, aber ich besuche viele internationale Konzerte. Kürzlich habe ich mir auf Netflix Taylor Swift angeschaut. Ich finde es krass, wie bombastisch die Shows der amerikanischen Pop-Künstler sind. Bei ihr ist jede Sekunde etwas explodiert und in die Luft geflogen. Sogar sie selbst ist durch die Gegend geflogen! (Lacht) Bei uns wird es definitiv entspannter ablaufen. Ich komme mehr vom Metal.

Tatsächlich? Haben Sie Heavy Metal gemacht oder nur gehört?
Damit habe ich Musik zu machen begonnen! Wenn wir die berühmten Metal-Bands gecovert haben, steuerte ein Freund die ganzen Shouts und Screams und ich den Gesang bei. Ich höre heute noch hauptsächlich Metal und noch ein wenig, was die Kollegen machen.

Wie kam es, dass Sie nun radiogängigen Deutschpop machen?
Ich fühle mich beim Songschreiben wohler, weil ich mich auf Deutsch besser ausdrücken und meine Gefühle verpacken kann. Ich schliesse aber nicht aus, irgendwann mal ein kleines Metal-Projekt zu machen. Vielleicht werde ich das sogar schon in naher Zukunft angehen und mal ein bisschen kraftvoller werden.

Wincent Weiss:
«Irgendwie anders»
(Universal Music).
Live: 26.11.2019 Zürich
Samsung Hall.

 

Photos Copyrights: Christoph Köstlin