Ein Interview mit dem italienischen Komponisten

Der italienische Pianist und Komponist Ludovico Einaudi (66) ist der meistgestreamte klassische Künstler aller Zeiten. Er füllt mit seiner Musik, die teilweise einen meditativen bis loungigen Charakter hat, Konzertsäle und Poptempel. ADAM THE MAGAZINE sprach mit ihm über die Entstehung seines neuen Albums «Underwater».

Ihre Musik ist Balsam auf die Pandemie-geplagte Seele.  Eigentlich müsste man «Underwater» auf Rezept bekommen…
Ja … (schmunzelt), sagen wir es so: Es besteht tatsächlich eine Verbindung zwischen dieser Musik und der Situation, in der wir uns befinden. Die ersten Stücke sind vor zwei Jahren entstanden. Ich kam gerade von Konzerten in Australien und Singapur zurück, als in China die ersten Anzeichen von Covid auftauchten, aber noch niemand dachte, dass dieses Virus auch uns erreichen könnte. Dann ist es auch hier in Norditalien explodiert und der Lockdown gekommen. Ich wollte eigentlich nur eine Woche in unserem Haus in den Bergen verbringen, doch dann wurden einige Monate draus.

Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Es war, als ob alle Aktivitäten auf der Welt angehalten worden wären. Das hatte ich vorher noch nie erlebt, niemand hatte das je erlebt. Wenn man all das Leid, das viele Menschen erfuhren, ausklammert, hatte die plötzliche Ruhe und Stille auch Positives. Es gab fast keine Flugzeuge am Himmel, die Luftverschmutzung war reduziert und die Fische kehrten in die Lagune von Venedig zurück. Es war, als ob die Natur uns sagen wollte, wir sollten alles ein wenig ruhiger angehen lassen und den Planeten nicht so stressen.

Haben Sie sich daran gehalten?
Ich begann diese Tage, an denen ich keine Verpflichtungen hatte, auszukosten und fühlte mich fast wie ein Teenager, der in den Tag hineinlebt und nur das macht, was er liebt. Ich ging spazieren, setzte mich danach ans Piano, komponierte, nahm Stücke auf … Alles war im Fluss, ohne Druck, ohne genaues Ziel. Eigentlich wollte ich kein neues Album machen.

Sondern?
Ich habe alles aus Lust und Freude getan, denn ich hatte uneingeschränkt Zeit. Da niemand wusste, wann die Pandemie ein Ende haben würde, hatte ich das Gefühl von Unendlichkeit. Ich begann einige Ideen zu Papier zu bringen. Die Stücke wuchsen mir besonders ans Herz, weil diese Musik zu mir gekommen war, ohne dass ich sie gesucht hatte. Dann merkte ich, dass ich sie gerne mit anderen teilen wollte.

«Underwater» ist Ihr erstes Solo-Klavieralbum seit 20 Jahren …
Ja, wobei mir das zu Beginn gar nicht bewusst war, da auch auf anderen Alben vereinzelt Solo-Klavierstücke vorkamen. Mir gefällt es, zu dieser puren Form zurückzukehren, dem Dialog zwischen Klavierspieler und Instrument, der ein Geben und Nehmen ist. Durch die Atmung und Bewegung wirkst du auf das Klavier ein, worauf es den Klang zurückgibt, der wieder zur Atmung führt. Es ist fast wie Didgeridoo spielen! (Lacht)

Was hat Sie zum Albumtitel inspiriert?
«Underwater» steht für einen Klang, der nicht aus unserem Alltag kommt, in dem die Welt pulsiert und sich bewegt, sondern aus einer Sphäre, in der alles runder und gedämpfter ist. Unter Wasser hört man den eigenen Atem, den Puls, und nimmt sich anders wahr.

Wofür steht der Schwan auf Ihrem Cover?
Im antiken Griechenland war er ein Symbol für Schönheit und Anmut. Für Apollo, den Gott der Poesie und Musik, galt er als heilig. Der Schwan steht ausserdem für Tiefe und erinnert dich daran, deinem Instinkt – dem Fluss des Lebens – zu folgen.

Stimmt es, dass Sie das Foto selbst gemacht haben?
Ja, schon seit ich 14 bin, ist das Fotografieren, vor allem mit Filmen, eine grosse Leidenschaft von mir. Ich habe eine kleine Kamera-Sammlung und liebe es, auf Spaziergängen oder Tourneen zu fotografieren. Meine Konzerte beginnen oft mit Projektionen von Bildern, die ich gemacht habe.

Wie entstehen Ihre Kompositionen?
Die ersten Ideen entstehen bei Improvisationen, aus einem irrationalen rhapsodischen Impuls heraus. Dann spiele ich die einzelnen Teile immer wieder, überarbeite sie, schreibe die Noten manchmal von Hand in meine Hefte. Durch die wiederholte Beschäftigung nehmen die Stücke langsam eine Form an, mit der ich zufrieden bin. Nach dieser ersten Phase der Verfestigung können bei der Aufführung vor Publikum noch weitere Variationen entstehen, welche die Komposition nur für diesen Abend oder dauerhaft verändern. Interessanterweise weiss ich beim Aufnehmen eines Albums nie, welche Stücke ich auf Dauer besonders gerne spielen werde und welche bekannter werden. Das ist sehr unterschiedlich.

Wie würden Sie Ihre Musikphilosophie beschreiben?
Es gefällt mir, wenn man bei Konzerten, auch den eigenen, eine gewisse Loslösung von den Originalaufnahmen heraushört und eine nicht erzwungene Intensität. Als ob sich die Musik von selbst spielen und von einer konstanten Energie vorangetrieben würde. Um alle Emotionen auszudrücken zu können, die mir wichtig sind, Freude, Kraft, Melancholie und Trauer, muss ich mich in die Musik vertiefen können und eine innere Ruhe finden, was mir jedoch nicht immer gelingt.

Ihre Musik inspiriert auch, weil sie viel Raum für eigene Gedanken lässt. Welche Wirkung hat sie, wenn Sie selbst Ihre Aufnahmen hören?
Ich erkenne sofort ihre Stärken und Schwächen und überlege, ob ich das ausdrücken konnte, was ich wollte. Ich identifiziere mich mit dem Klang und spüre, ob dieser Klang zu sprechen vermag und dem Publikum all das vermittelt, was in ihm steckt. Natürlich ist es jedem freigestellt, was er darin hören möchte, aber mir ist wichtig, dass er (der Klang) für mich stimmig ist.

Was bedeutet es Ihnen, der meistgestreamte, klassische Musiker aller Zeit zu sein?
Ich denke nicht zu sehr an die Zahlen. Zu wissen, dass immer mehr Menschen meine Musik hören, motiviert mich jedoch zusätzlich, meine Arbeit immer besser zu machen und nur das zu tun, wovon ich gänzlich überzeugt bin. Der Erfolg ändert aber nichts an meiner Leidenschaft, den Zielen, die ich verfolge, und der Beurteilung meiner Arbeit. Ich bin da sehr kritisch und gebe mich nicht schnell zufrieden.

Ludovico Einaudi wurde am 23. November 1955 in Turin in eine einflussreiche Familie hinein geboren. Ein Grossvater war Staatspräsident von Italien, der andere Komponist und Dirigent, der Vater Verleger. Ludovico lernte schon früh, Klavier zu spielen, ging aufs Konservatorium und begann dann Bühnen- und Filmmusik zu schreiben sowie mit minimalistischen, von Philip Glass und Erik Satie inspirierten Solo-Klavierprogrammen aufzutreten. Sein bekanntester Soundtrack ist die Musik zum Kinohit «Ziemlich beste Freunde». Sein aktuelles Album «Underwater» (Universal Music) enthält zwölf meditative Piano-Instrumentalstücke.

 

Photos Copyrights: Ray Tarantino / Universal Music