„Die Zuschauer haben es natürlich lieber, einer schön verpackten Lüge zu begegnen. Wahrheit tut weh, deswegen will man sie nicht sehen.“
Er führt uns das Leben vor, dem wir uns so gern entziehen. Hoffmann & Campe publiziert nun sämtliche seiner bedeutenden Drehbücher in einem Band. Warum Michael Handke einer der letzten genialen Filmemacher ist.
Eine ältere Frau erleidet einen Schlaganfall. Fortan ist sie eine Gefangene ihrer selbst, an Rollstuhl und Bett gefesselt, auf Pflege angewiesen, muss sie die Schmach erdulden, sich einzunässen, sich von fremden Händen waschen zu lassen. Alles geht dahin, die Freiheit, die Würde, die Sprache, alles, was das Leben lebenswert machte, doch er ist noch da, Georges, ihr Mann. Und mit ihm die Liebe. Er hat ihr versprochen, dass er sie nicht wegbringt. Und nun bittet sie ihn eindringlich, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Das ist LIEBE, Michael Hanekes elfter Kinofilm, ein Geniestreich. Dafür gab es 2012 gar einen Oscar, obschon sich der österreichische Autorenfilmer fernab jeglicher Hollywood-Formel bewegt. Seine Werke sind frei von Klischees und ohne jegliche Sentimentalität. „Im Mainstream gibt es Regeln“, so Haneke, „Tieren und Kindern darf nichts passieren. Aber in der Wirklichkeit passiert ihnen halt doch etwas.“ Und um diese Wirklichkeit, um die geht es. Hanekes Filme sind hart und grausam und von warmer Schönheit zugleich. Sie zeigen uns das Leben, wie es ist, nicht schöner, nicht besser. Dabei meidet es der Visionär, irgendwelche Botschaften zu vermitteln. In einem Haneke gibt es keine Antworten, vielmehr werden Fragen aufgeworfen.

Haneke wächst in Wiener Neustadt in einer Schauspielerfamilie auf. Angeblich will er in jungen Jahren die Schule schmeissen, um selbst Schauspieler zu werden, studiert dann aber in Wien Philosophie, Psychologie und Theaterwissenschaften. Mit 47 präsentiert er seinen ersten Kinofilm, DER SIEBENTE KONTINENT, verstört und wappnet uns auf die schonungslose Wahrheit, die mit seinen nachkommenden Werken auf uns niederprasseln wird. Um nur drei davon zu nennen: In BENNYS VIDEO tötet 1992 ein Teenager aus Sensationslust ein Mädchen und filmt das Verbrechen. Bemüht, den Jungen aus der Scheisse zu ziehen, in die er sich selbst geritten hat, machen sich seine Eltern strafbar. Ein Mass an Loyalität, das der Protagonist selbst nicht erwidern wird. Mit DIE KLAVIERSPIELERIN adaptiert Haneke 2001 den gleichnamigen Roman der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Schnörkellos inszeniert er die Geschichte einer innerlich abgestumpften Klavierlehrerin, die von ihrer kontrollsüchtigen Mutter zur Pianistin gedrillt wird und deren Bemühen, um ein sadomasochistisches Verhältnis mit einem ihrer Schüler scheitert. DAS WEISSE BAND – EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE handelt von mysteriösen Vorfällen und traumatisierenden Übergriffen an durch herrische Erziehung fügig gemachten Kindern in einem protestantischen Dorf. Der Film, anstrengend, schwer, aber genial, wurde 2009 in Cannes mit der Goldenen Palme prämiert. Hoffmann & Campe hat nun mit DIE DREHBÜCHER sämtliche bedeutenden Drehbücher des 76-Jährigen zwischen zwei Buchdeckel gepackt. Plus: Das bis anhin nicht realisierte, fertiggestellte Skript FLASHMOB. Für Cineasten und denkfreudige Menschen gleichwohl ein Hochgenuss.
„Man kann darüber streiten, ob Kino Kunst sein kann, aber wenn Kino das sein will, dann ist es der Wahrhaftigkeit verpflichtet.“

Photos Copyrights: Hoffmann & Campe, X Verleih