Wallace Chan auf der Kunst Biennale in Venedig

Ob filigrane, opulente Schmuckstücke aus Edelsteinen oder monumentale Skulpturen aus Titan – die Arbeiten des Chinesischen Künstlers Wallace Chan bringen immer auch seine buddhistische Philosophie zum Ausdruck. In Venedig ist seine Ausstellung „TOTEM“ im Kontext der 59. Kunst Biennale zu sehen. Wir trafen ihn zum exklusiven Interview in der Lagunenstadt. 

Bettina Krause: Was ist die Idee dieser Ausstellung?
Wallace Chan: Es sind die Fragmente einer zehn Meter grossen Skulptur, durch die sich die Besucher*innen bewegen. Thema ist die Ungewissheit – im abgedunkelten Ausstellungsraum ist kaum zu erkennen, wie sich die Fragmente wieder zusammenfügen lassen. In der Regel betrachtet man Skulpturen aus der Distanz als Ganzes, bewegt sich um sie herum und das Innere bleibt verborgen. Diese Idee wollte ich öffnen, sodass Betrachter*innen das Innere der Skulptur sehen können und zum Teil von ihr werden. Sie bewegen sich durch die Fragmente, die ich Totems nenne, gehen eine Bindung mit ihnen ein und erlangen immer wieder überraschende, ungewisse Perspektiven.

Dieser Gedanke steht sinnbildlich für unsere Weltordnung?
Richtig. Derzeit leben wir in sehr ungewissen Zeiten aber meine Hoffnung ist, dass sich die Fragmente der
Skulptur – und jene unsere Welt – wieder zu einem heilen Ganzen zusammenfügen lassen. Damit sich der Prozess der Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion vervollständigt.

Blicken Sie also positiv in die Zukunft?
Derzeit wartet unsere Welt darauf, wieder repariert zu werden. Ich glaube, dass die Welt und wir als Menschen, die Kraft haben, selbst zu heilen. Wir müssen daran jedoch arbeiten. Die Ausstellung ist ein Sinnbild dieser Zusammenhänge und wird an unterschiedlichen Orten weltweit dekonstruiert und rekonstruiert. Im aktuellen Zustand erinnert sie an die Kraft und Möglichkeit, zu heilen und zurück zur Balance zu finden.

Was drückt der Titel „TOTEM“ aus?
Die Idee eines Totems ist unser Versuch als Menschen, eine Verbindung mit dem Unbekannten herzustellen. Zugleich ist es unsere Hoffnung auf etwas Grösseres ausserhalb unserer Realität. Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehören die kunstvollen Schnitzereien von Drachen, Phoenix und wundersamen Kreaturen an chinesischen Tempeln. Der Glaube besagt, dass man mit den Göttern verbunden ist, weil die Figuren in die Tempel geschnitzt sind. Die Idee des Totems ist unser Versuch, in die uns unbekannte Welt, in das Ungewisse vorzudringen.

Was können Besucher*innen aus der Ausstellung für sich mitnehmen?
Es geht darum, über den Prozess der Dekonstruktion und Rekonstruktion unseres Selbst zu reflektieren: Was ist unser Selbst? Was macht uns zu dem, was wir sind? Sind wir die, die wir zu glauben scheinen oder sind wir von der Gesellschaft geformte Wesen? Wir leben in einer Zeit des Informationsüberflusses und werden bombardiert mit Informationen. Manchmal denken wir, dies wäre ein Teil von uns, weil wir die Informationen ungefiltert in uns aufnehmen, ohne über unsere eigene Existenz zu reflektieren. Ich denke, dies ist ein guter Ort zur Kontemplation und um über die Idee des eigenen Selbst zu reflektieren – woher es kommt und wohin es geht.

Kann Kunst einen Beitrag leisten, die Krisen unserer Zeit zu bewältigen?
Ja, denn die Kunst hat die Kraft, uns zu helfen, zu transzendieren. Was wir auch derzeit in der physischen Welt erleben – sie gibt uns die Möglichkeit, von etwas Besserem, Höheren, Schönen, Gütevollerem zu träumen. Ich glaube an die Kraft der Kunst und ich kann mir eine Welt ohne sie nicht vorstellen. Ohne Kunst gibt es keine Hoffnung. 

TOTEM by Wallace Chan
20. April bis 23. Oktober 2022
Fondaco Marcello
Calle del Tragheto, Venedig

Photos Copyrights:  Massimo Pistore