Die Tradition fit für die Zukunft machen

Mit dem Gründungsjahr 1755 ist Vacheron Constantin die älteste immer aktive Uhrenmanufaktur der Welt. Als Direktor über Heritage und Patrimony wacht Christian Selmoni über die Koexistenz von analoger und digitaler Welt. ADAM hat den profunden Markenkenner zum Gespräch getroffen.

ADAM: Wie   schützen  und   bewahren Sie Ihre Uhrmacher-Schätze für die Zukunft, ohne von der digitalen Welt abgehängt zu werden?

Christian Selmoni:
Man muss unterscheiden, ob es darum geht das Handwerk zu schützen oder die Produkte … Fangen wir doch mit dem Handwerk an. Ich denke, die digitale und die analoge Welt gehen sehr gut zusammen. Die eine schliesst die andere nicht aus. Wir legen Wert darauf, die Errungenschaften und Qualitäten unserer Haute Horlogerie im besten Licht zu zeigen. Es geht um grosses Know How, um Tradition, um Klassik und nicht zuletzt auch um Ästhetik. Ganz wichtig ist bei uns die Tradition der händischen Finissierung, Jedes Uhrwerkteil wird von Hand poliert und verziert. Das gesamte Uhrmacher-Wissen ist per Definition mechanisch. Heute kauft praktisch niemand mehr eine Uhr um die Zeit abzulesen. Dazu haben wir alle irgendein Gadget.

Was macht denn eine Uhr heute aus?
Eine Uhr ist ein schönes Objekt und ein Kunstwerk, das auch noch die Zeit anzeigt. Von Vacheron Constantin wird erwartet, dass wir unsere Haute Horlogerie, die aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammt, aufrechterhalten.

Kann man dieses Vermächtnis überhaupt digitalisieren? Wenn ja, wie gehen Sie vor?
Bei uns ist diese Frage ganz klar nicht auf dem Tagesprogramm. Diese Diskussion ist kontradiktorisch zu den Werten des Hauses. Unsere Position in der Haute Horlogerie verlangt, dass unsere Uhren mechanisch sind und bleiben. Wir hegen keine Befürchtungen wegen der Smartwatches. Es ist eine ganz andere Technologie, die wir notabene gar nicht beherrschen. Wir überlassen dieses Geschäftsmodell anderen.

Wie sieht es mit der Digitalisierung ihrer Archive aus?
Es gibt zwei Antworten auf die Frage. Wir digitalisieren alles aus unseren Archiven was wir können. Briefe, Dokumente, das ist eine grosse Aufgabe. Trotzdem bewahren wir die Dokumente weiterhin physisch auf. Digitalisieren ist nicht zwingend die beste und alleinige Lösung. Ich erinnere an die Floppy Disk vor 30 Jahren. Heute funktionieren diese Geräte und Datenträger nicht mehr. Digitalisierung macht Sinn, aber wir müssen auch mit den Originaldokumenten arbeiten können. Gleichzeitig haben wir damit einen Backup und können mit Archivmaterial arbeiten ohne es der Gefahr der Beschädigung auszusetzen.

Welches ist der Plan B – das physische Archiv oder das digitale?
Im Heritage Department arbeiten wir jeden Tag sowohl mit dem physischen als dem digitalen Archiv. Wenn wir ein bestimmtes Uhrenmodell suchen, recherchieren wir elektronisch. Wir kontrollieren diese Informationen aber immer in den physischen Archiven. Wir behandeln sie mit grosser Sorgfalt. Wir zollen der Unterstützung aus der Zeit Respekt. Vom 18. Jahrhundert bis in die 1980er-Jahre hatten wir ausschliesslich physische Archive. Das grosse Problem sind die Jahre ab den 80er-Jahren bis heute, weil es keine physischen Archive mehr gibt, alles ist digital. Die Folge ist, dass die Menge der elektronischen Dokumente explodiert. Die Datenmengen sind gigantisch. Wir müssen regelmässig Triagen machen, was sehr viel Arbeit für die Mitarbeitenden nach sich zieht. Wir müssen sie sensibilisieren nicht alles zu löschen. Es ist eine riesiger Challenge, wichtige Dokumente für die Zukunft aufzubewahren. Die Design- und die Kreationsabteilungen müssen ihre Daten ins Patrimoine überführen. Für Prototypen bauchen wir gerade ein Archiv auf. Die Euphorie über die digitalen Möglichkeiten ist etwas verflogen.

Das Design spielt eine grosse und wichtige Rolle in der Uhrenindustrie. Wie wichtig ist es für Ihre neue Uhrenkollektion?
Design ist von vitaler, zentraler und kapitaler Bedeutung. Die Frage wie man eine Uhr einkleidet, ist von grösster Wichtigkeit. Unsere Designs funktionieren über klassische Codes. In meiner früheren Position als Design Director habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, welches Design den Stil von Vacheron Constantin am besten darstellt. Für mich ist es Eleganz, Raffinesse und eine gewisse Diskretion. Das sind unverrückbare Codes. Man braucht sie nicht einmal auf Papier festzuhalten, sie sind die natürliche Signatur unseres Hauses. Vacheron Constantin ist zeitlos, klassisch, raffiniert. Design ist wichtiger denn je. Der Markt ist sehr kompetitiv. Man muss seine eigene ästhetische Identität haben.

Ihr Firmensitz befindet sich in einem bemerkenswerten Gebäude. Kann Architektur den Look einer Uhr beeinflussen?
Für mich ist es ein grosses Glück, Teil der ältesten Manufaktur zu sein, die seit 1755 immer aktiv war. Deshalb haben wir diese wunderbaren Archive mit Dokumenten, Zeichnungen und Fotos. In unserer Sammlung befinden sich zu- dem 1’500 Uhren. Wenn wir Inspiration brauchen, dann suchen wir sie meistens zuerst da. Für mich ist das wirklich ein Schatz. Wir nutzen die Vergangenheit für die Kreation moderner Uhren. Die Vergangenheit dient uns, die Essenz des Designs einzufangen und unsere Geschichte weiterzuerzählen und nicht um sie zu kopieren. Architektur wiederum kann dieses Universum zusätzlich nähren. Unser Gebäude wurde 2004 vom bekannten Architekten Bernard Tschumi gebaut. Er hat eine ästhetische Signatur geschaffen, für die er von unserem Emblem, dem Malteserkreuz, ausgegangen ist. Er hat es extrem stilisiert. Wir arbeiten hier in einem interessanten Spannungsfeld von traditionellem Handwerk und einem sehr modernen Gebäude.

Welche Fähigkeiten braucht ein Style & Heritage Director in einer Uhrenmanufaktur? Was sind Ihre besonderen Talente?
Eine gute Frage. Wenn ich das wüsste! Ich denke für mich ist diese Entwicklung die Fortsetzung meiner vorherigen Arbeit. Ich war Designdirektor und leite jetzt auch diese Abteilung mit einem kreativen Auge. Es gehört zu meinen Aufgaben aus dem Vermächtnis von Vacheron Constantin diejenigen Uhren herauszuziehen, deren Designdetails uns heute wieder interessieren.

Wie haben Sie sich das Wissen über die lange Geschichte des Hauses angeeignet?
Ich habe beinahe meine ganze Karriere bei Vacheron Constantin verbracht. Daher mein grosses Wissen über die Geschichte des Hauses. Angefangen habe ich als Verkaufsverantwortlicher. Ich habe mich immer sehr für Produkte interessiert. Dann war ich Direktor der Manufaktur und von 2002 bis 2017 habe ich mich um die Kreation und Entwicklung der Marke gekümmert. In den verschiedenen Stationen über die Jahre konnte ich mir eine sehr tiefe Kenntnis über die Manufaktur und die Produkte aneignen. Heute bin ich mit der Aufgabe betraut, das reiche kulturelle Erbe Vacheron Constantins zu bewahren und für die Zukunft aufzubereiten. Es geht nicht nur um die Uhren, sondern auch um die Kunden und die Geschichte des Hauses. Die Leute interessieren sich heute sehr für den Bereich Vintage. Auf unserem Instagram-Account Thehourlounge zeigen wir Interessantes dazu.

Verkauft Vacheron Constatin auch Vintage-Uhren?
Ja, wir haben seit 2017 ein Programm, das sich Les Collectionneurs nennt. Wir kaufen Vintage-Uhren zurück aus den 20er- bis zu den 70er-Jahren, auf Auktionen zum Beispiel, stellen sie instand und verkaufen sie wieder. Um die Uhren zu einem vernünftigen Preis weiterverkaufen zu können, dürfen wir sie nicht schon zu einem überrissenen Preis einkaufen. Das ist eine Herausforderung. Das Volumen dieses Geschäftes ist klein, aber es ist eine fantastische Möglichkeit mit relativ einfachen Mitteln über die Marke zu reden. So erhalten wir unser Erbe lebendig.

Diese Vintagemode ist super. Wir wissen nicht, wohin sie führt und wann sie vorbei sein wird. Aber für uns ist sie im Moment exzellent.

Wer interessiert sich für Vintage-Uhren?
Ich treffe viele junge Klienten zwischen 25 und 38 Jahren und sie sind sehr interessiert an diesen Vintage-Uhren.

Sie verkaufen auch ein neues Vintage- Modell sehr erfolgreich, nicht wahr?
Sie meinen die neue Version der «Chronograph Corne de Vache» von 1955. Diese Uhr ist ein grosser Designklassiker. 2013 haben wir begonnen, sie neu aufzulegen. Sie läuft sehr erfolgreich. Gerade haben wir sie in einer Stahlversion herausgebracht.

Hat Kunst eigentlich einen Einfluss in Ihrer Arbeit? Wenn ja, welche Art Kunst inspiriert Sie?
Ich schätze Kunst als Laie. Ich sammle sie aber nicht. Inspirieren tut mich mehr das Kunsthandwerk verschiedener Kulturen und Zivilisationen. Besonders in Japan und Mexiko liebe ich die Museen für Volkskunst. Ich liebe auch Street Art in New York.

Vacheron Constantin hat eine Beziehung zu den berühmten Abbey Road Studios in London aufgebaut …
«Ja, musikalische Affinitäten und ge- meinsame kreative Bemühungen stehen im Mittelpunkt dieser Partnerschaft mit den Abbey Road Studios, die auf gemeinsamen Werten basiert, die ganz im Einklang mit der neuen«one of not many»- Kommunikationskampagne stehen.»

Mit welcher Art Musik vergleichen Sie Vacheron Constantin? Wenn das Haus ein Musikstück wäre, welches wäre es?
Ein modernes Jazz-Quintett mit einem super guten Solisten. Jazz ist Musik mit Seele, deshalb passt er so gut zu Vacheron Constantin.

Vacheron Constantins Claim ist «one of not many». Wie kam es dazu?
Unsere schöne Uhrmacherkunst ist klein im Vergleich mit anderen Branchen. Im Jahr wird etwa eine Milliarde Uhren produziert. Davon gehören lediglich 157’000 zur hohen Uhrmacherkunst. Wir sind sehr klein.

Wie erklären Sie Ihre Uhren jemandem, der kein Uhren-Afficionado ist?
Ich erkläre einfach die Haute Horloge- rie. Wir machen authentische Uhren von grosser Qualität mit aussergewöhnlichem Finish. Sie überdauern die Jahrhunderte. Es ist die Summe der Horlogerie. Es geht nicht um Quarz gegen Mechanik. Wir suchen die Perfektion und die hat ihren Preis.